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Neue Freie Presse, Wien, 20. März 1890
Vor einiger Zeit wurde eine Aeußerung des Kaisers Wilhelm verbreitet, derzufolge derselbe gesagt hätte, was die Social-Demokraten angehe, so werde er mit diesen schon selbst fertig werden. Die Aeußerung lautete nach einer Berliner Mittheilung anders, und zwar soll Kaiser Wilhelm erklärt haben: Wenn die Social-Demokraten nicht schlimmer sind, wie der ist (Buchholtz), dann hoffe ich, mit ihnen schon fertig zu werden. Sieher sei, daß der Kaiser kein gütliches Mittel unbenützt lassen wird, um die socialistische Gefahr zu beschwören; ebenso gewiß, daß er, falls dies mißlingt, entschlossen sei, wahr zu machen, was er neulich mit dein Ausdrucke „zerschmettern“ andeutete. Auch diese Eventualität soll faktisch bereits vorgesehen sein. Ursprünglich wäre der Kaiser für ein Socialisten-Gesetz gewesen, seit der Zusammenkunft wegen der Stadtmission im November 1887 trat aber allmälig eine Aenderung ein. In der Umgebung des Monarchen ist stark die Auffassung vertreten, daß das Socialisten-Gesetz ein Fehler war. Inwieweit Ueberzeugung oder Taktik hiebei das Wort geführt haben, steht dahin. Charakteristisch ist, daß als Hauptargument gegen das Gesetz angeführt wird, daß Preußen desselben nicht bedürfe, sondern nur das nichtpreußisehe Deutschland. Preußen handle unklug, sich als Vorspann benutzen zu lassen und das Odium auf sich zu nehmen. Aus dieser particularistischen Auffassung in hohen Kreisen erkläre sich mancher Artikel der Kreuzzeitung gegen das Socialisten-Gesetz. — Die Schwenkung in der Haltung der Kreuzzeitung gegenüber dem Socialisten-Gesetze ist übrigens erst vor einer Woche eingetreten.
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Siehe auch:
- Wie stellen sich die Sozialdemokraten zur Monarchie?
- Die Sozialdemokraten und die Monarchie
- Der Kaiser und der Sozialdemokrat
- Der Kaiser hält eine Rede und plaudert mit einem Sozialdemokraten
- Dieser Artikel ist Teil der Parallelberichterstattung “1890 Reloaded”
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