Eugen Richter: Im Alten Reichstag, Band 2, Seite 202-203
Sprengung von Versammlungen.
Im Bewußtsein ihres hohen Protektors gingen die Antisemiten in dieser Zeit frecher als je darauf aus, unsere Versammlungen zu sprengen. Dies gelang ihnen am 7. April bei einem Vortrag des Reichstagsabgeordneten v. Saucken-Tarputschen im dritten Wahlkreise. Die Antisemiten hatten sich hier zum Teil auf falsche Namen Einlaßkarten verschafft. Sobald damals in Versammlungen es den Antisemiten gelang, irgendwo Unruhe oder Tumult hervorzurufen, schritt die Polizei, statt den Ruhestörern zu wehren, zur Auflösung und erfüllte damit gerade die Absichten der Ruhestörer. In solchen Fällen beeilte sich das offiziöse Wolffsche Telegraphenbureau es so darzustellen, als ob die Versammlungen nicht durch Ruhestörungen von Eindringlingen, sondern durch regierungsfreundliche Volksbewegungen aus dem Schoße der Fortschrittspartei heraus vereitelt worden wären.
Da die Kartenausgabe allein noch nicht ausreichte, uns gegen Ruhestörer und damit gegen polizeiliche Auflösungen zu schützen, so mußten wir um diese Zeit für unsere Versammlungen neben der Kartenkontrolle noch eine Personenkontrolle einführen. Zur Erlangung der dazu erforderlichen Personenkenntnis unter den Radaumachern organisierten wir eine für alle Versammlungen in der ganzen Stadt bestimmte Privatpolizei gegen Bezahlung, zu der besonders handfeste Parteigenossen ausgewählt wurden. Mehreremal wurde alsdann noch versucht, auf der Straße vor den Versammlungslokalen bekannte Führer der Partei, wie z. B. mich, zu insultieren.
Am 8. April sprach ich im “Schützenhaus’” zu Berlin in meinem Landtagswahlkreis über den “Reichskanzler und die Stadt Berlin”; auch hier hatte zuvor ein Angriff antisemitischer Ruhestörer abgewiesen werden müssen. Ich schilderte in meiner Rede, welche alsbald in Broschürenform eine Massenverbreitung erlangte, die gesamten Kommunal- und Steuerverhältnisse Berlins, geißelte das Benehmen des Reichskanzlers bei den Verhandlungen über die Lex Tiedemann, wies die Unwahrheit seiner Behauptungen nach und kennzeichnete das Treiben der Berliner Anhänger des Kanzlers.